Fallbeispiel 06D02O

Hallo,

Da ich rezent einen interessanten Einsatz hatte, bei dem ich selbst mehrfach von diversen Entwicklungen überrascht wurde, dachte ich, dass es sich um ein nettes Fallbeispiel handeln würde. Dementsprechend werde ich die Infos, die wir hatten, auch nur auf explizite Nachfrage herausgeben, da es uns auch so erging.

Die Alarmierung erfolgt im Nachtdienst gegen 05:00 in eine Gemeindebauwohnung in den 20. Bezirk zu einem 06D02O (Atemstörung - Sprachschwierigkeiten zwischen Atemzügen). Im Freitext informiert die LST nur über die entsprechende Stiege, aus dem Abfrageschema geht folgendes hervor:

  • Männlich, 63a
  • Asthma/COPD nicht bekannt
  • Inhalator wurde erfolglos benutzt

Bei Eintreffen am BO präsentiert sich der Patient wie folgt:

  • Seiten-/Bauchlage auf einer Couch, mehrere Decken
  • Wenig Haut sichtbar, jedoch eindeutig schweißig
  • Eindeutig stark gesteigerte AF und AZV

Die Angehörigen schildern, er sei vor ca. 1h im AKH in Behandlung gewesen, bei Rückkehr hätte er plötzlich sehr schwer zu atmen begonnen.
Er selbst spricht kaum bis gar nicht Deutsch, eine Anamnese ist bei ausgeprägter Sprachbarriere de facto nur über seinen Sohn möglich.

Welche Infos/Fragen/Befunde interessieren euch nun als Nächstes?

Danke für den Fall!

Erstmal Scene-Safety? (Wie schauts dort aus , Gefahren?) Falls das alles ok ist wie folgt:

.) Weg mit den 100-Schichten Decken und Co. und den Herren mal Aufsetzen (Wie reagiert er aufs Aufsetzen? , Was sehe ich nach dem ich die Schichten weggetan habe?)

.) SAMPLE und XABCDE gemeinsam mit dem Sohn (Warum war er vor allem im AKH?)

.) Monitoring hätte ich mal gerne (RR , SPO2 und a 4er Ableitung) und lasse mal was für O2-Gabe richten.

Rest nachdem wir mal einen groben Überblick haben…

Also dann:
Das Wohnzimmer ist geräumig, wenig störende Möbel oder sonstige herumstehende Gegenstände, der Patient kann gut erreicht werden. Gefahren können vorerst nicht ausgemacht werden. Die einzigen Personen, die nebst Patient anwesend sind, sind seine Frau und sein Sohn.

Nach Aufsetzen fällt primär auf, dass der Pat massiv schwitzt, seine re. Wange ist deutlich angeschwollen. Das Aufsetzen scheint er gut zu vertragen.

A: frei; klingt etwas verschleimt
B: Hyperventilation ca. 30AF; keine Zyanose; AHM wird nicht eingesetzt; Auskultation aufgrund von anhaltendem schmerzverzehrtem Stöhnen nur schwer möglich, Lunge klingt jedoch grundsätzlich frei
C: Haut sehr warm, schweißig; Puls schwach tastbar, deutlich tachykard; Rekap zentral < 2 sek
D: Patient mobilisiert Extremitäten gezielt und kontrolliert, Pupillen sind isokor, rund, mittelweit und reagieren prompt

S: Schmerzen Kiefer re., lt. Sohn das „offensichtlich schlechte Atmen“
A: keine bekannten Allergien
M: Berodual, irgendein Statin, Amlodipin und noch 1-2 weitere Antihypertensiva
P: art. Hypertonie, chron. Nikotinabusus (PY nicht gut eruierbar, aber definitiv zweistellig)
L: Am Vorabend gegessen, Trinken im Laufe der Nacht, Harn- und Stuhlanamnese unauffällig
E: Rückkehr aus dem AKH, anschließend im Liegen plötzlich stark gesteigerte Atemtätigkeit
R: Raucher, Adipositas

Im AKH war der Patient, da er einen eitrig-entzündeten Zahn hat und ein Schmerzmittel benötigte. Euch wird ein Rezept für Augmentin und Seractil vorgelegt.

Vitalzeichen:
RR 125/80mmHg; AF ca. 30/min; HF 130/min; SpO2 92%

Das sind soweit die ersten Infos, die wir initial erheben konnten.

Bezgl D: ZOPS? GCS?

Temperatur?

Was ist der Blutdruck normalerweise?

Wann hat das mit dem Zahn gestartet?

Werfe mal mögliche Sepsis in den Raum

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Bezüglich ZOPS: Der Patient spricht selbst de facto kein Wort Deutsch, im Gespräch mit dem Sohn dürfte er 4x orientiert gewesen sein. Er hatte allzeits einen GCS 15.

Eine Blutdruck-Baseline konnte man uns leider nicht nennen, da er trotz der mehrfachen medikamentösen Therapie einfach nicht misst.

Die Zahnbeschwerden dürften seit wenigen Tagen zugenommen haben, an der MKG-Chirurgie wurde er aufgrund von akuten Schmerzspitzen vorstellig.

Die Sepsis hatten wir zu diesem Zeitpunkt ebenfalls im Trichter. Aber wie sieht denn nun das weitere Prozedere diagnostisch/therapeutisch aus?

Sepsis, vl inzwischen auch floride endocarditis.

Volumenbus und back to akh :slight_smile: bzw spital mit kiefer, zahn muss asap raus + iv antibiose.

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Aufgrund der Kieferschmerzen und der plötzlichen akuten Symptomatik hätt ich dann doch gern ein 12-Kanal-EKG und eher flott.
Sonst gezielte Frage auf Thoraxschmerz, Schmerzanamnese nach OPQRST im Bezug aufs Kiefer. Schon mal sowas gehabt? Was wurde im AKH gemacht, hat er da auch was anderes bekommen als ein Rezept?

Wenn wir schon immer von unserem Trichter reden dann denke ich mal in Richtung PE, MCI die am ehesten ausgeschlossen gehören. Eher unwahrscheinlich aber nicht unmöglich (wegen plötzlichem Onset) Myo/Endokarditis wegen dem eitrigen Zahn. Wenn das mal gemacht ist, dann wohl Richtung Sepsis, wobei da auch die Dyspnoe von einer Minute auf die andere seltsam ist.

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mich würde auch noch die einnahme des Augmentins interessieren (wann das erste mal) bzw Auskultationsbefund cor/pulmo

Okay, interessante Inputs auf jeden Fall. Ich fass mal kurz die aktuellen Differenzialdiagnosen zusammen, ehe ich weitermache.

  • Sepsis
  • Endo-/Myokarditis
  • PE
  • MCI

Dass der Patient auf jeden Fall wieder ins AKH gehört, war auch unsere Meinung. Während von Seiten des Lenkers also der Abtransport vorbereitet wird, werden durch NFS und NKV die Temperatur (38,5°C) gemessen sowie ein EKG vorbereitet.
Während das EKG hergerichtet wird, beginnt der Pat mehrfach zu Husten, wobei deutlich sichtbar größere Blutstropfen mit ausgeworfen werden, was sich auch im vorgehaltenen Taschentuch bestätigt.
Im EKG zeigt sich eine Sinustachykardie bei ca. 130/min mit Rechtsachsenabweichung und inkomplettem RSB.

Der Patient selbst negiert jegliche Schmerzen abseits des Zahns sowie eine Dyspnoe. Der Sohn schildert, er wisse nur von der Ausstellung des Rezepts für Augmentin und Seractil. Beide Medikamente wurden zum Einsatzzeitpunkt noch nicht eingenommen.

In der Lungenauskultation klingt der Patient leicht verschleimt mit ansonsten vesikulären AGs. Wie bereits gesagt, das Schmerzstöhnen des Patienten überlagert dies leider ein bisschen.

Ändert sich nun für euch das weitere Prozedere? Gibt es neue Verdachts-/Differenzialdiagnosen?

Siehe eklass, bei den Risikofaktoren hätt ich jetzt gerne die Kieferschmerzen mit einem 12er EKG demaskiert/zugeordnet - Beinödeme sichtbar? tTemperatur? Körperstamm rot, marmoriert, normales Kolorit?
Schublade auf für vhfli de Novo, Card Geschehen, sepsis, allerg Reaktion

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also nun definitiv Rechtsherzeblastung. Wäre noch spannend ob ich über dem rechten 4. ICR ein Systolikum höre. Denke in Richtung PAE mit begleitender TI. Ich nehme an BGA und Sono ist eher nicht vorhanden?

evtl auch durch vegetation auf den klappen?

Ich bleib bei der Sepsis.
Die macht ja durchaus sehr gerne thromboembolische Ereignisse, periphere PEs sind da fast schon normal. Wenn der jetzt auch noch Blut hustet könnt es durchaus eine zentrale PE sein.
Ändert grundsätzlich nix am Management:
Als RTW Volumen und go
Wenn man ein NEF will ist das legitim, ggf Echo und Heparin.

12 Kanal gehört auf jeden Fall gemacht, wird aber nix am Management ändern. Der gehört in eine Klinik mit MKG und zumindest auf eine IMCU, eher ICU.

Dito…

12er zum Ausschluss drauf + Leitung rein zimmern und dann mit Volumen zurück zum Absender (Da er sowieso schon im AKH war vorzugsweise dort hin)

Ich möchte noch kurz verbleibende Fragen beantworten, ehe ich den restlichen Verlauf schildere.

Kieferschmerzen:
Der Charakter sei wohl unverändert, wie bereits in den letzten Tagen, nach der klinischen Vorstellung bei akuter Schmerzspitze hätten sie wohl nachgelassen. Sie strahlen nicht aus und sind zeitgleich mit der Entzündung erstmalig aufgetreten.

Bodycheck:
Der Patient hat bds. gleichwarm temperierte Beine ohne Ödembildung oder Schmerzangaben. Auch am Körperstamm fallen keine Hautveränderung auf. Einzig das bereits genannte starke Schwitzen zieht sich weiterhin durch.

Apparative Diagnostik:
Weder eine BGA noch ein US waren uns verfügbar. Eine Herzauskultation wurde von mir mangels zureichender Erfahrung in dem Bereich unterlassen. (Definitiv eine Kompetenz, die ich noch halbwegs gut erlernen möchte)

Von uns erhielt der Patient in der Wartezeit auf den Tragstuhl einen großlumigen Venenzugang, der (aus zeitlichen Gründen erst) im RTW noch um Elomel 500ml ergänzt wurde. Der Patient wurde von uns unter laufendem Monitoring sowie low-flow Sauerstoff-Gabe über Nasenbrille zurück ins AKH gebracht.

Dort fand zuerst ein kurzer Zwischenstopp an der Triage statt, wo sich das klinische Bild erneut um 180° drehte.
Die DGKP kannte den Patienten bereits, da sie ihn auch zuvor triagiert hatte. Ihr fällt auf, dass die Schwellung an der Wange wesentlich größer ist, als dies zum Entlassungszeitpunkt der Fall war. Auch die Lippen seien ihr zufolge deutlich angeschwollen. Sie hält telefonisch Rücksprache mit dem diensthabenden MKG-Chirurgen, der angibt, er hätte im Bereich des Zahns unter Lokalanästhesie eine Inzision durchgeführt, von der eben auch der Sohn keine Kenntnis hatte.
Schlussendlich wird der Patient auf der internen Überwachung übergeben, die aktuelle Arbeitsdiagnose lautet an diesem Punkt Akute Anaphylaxie auf das Lokalanästhetikum. Differenzialdiagnostisch werden Lungenembolie und Sepsis erwogen.

Ich hatte leider bis dato noch keine Gelegenheit den weiteren innerklinischen Verlauf sowie die tatsächliche Diagnose in Erfahrung zu bringen. Dennoch erschien mir dieser Einsatz aufgrund der diversen Wendungen hinsichtlich Arbeitsdiagnose teilenswert.

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Also ich hab schon ein paar Anaphylaxien auf Lokalanästhesie gesehen. Hier halte ich das für sehr unwahrscheinlich, in der Regel ist das fulminant und nicht so undulierend „bissi“ über Stunden. Auch der späte Onset passt nicht dazu! Das Blut-husten sowieso gar nicht.

Er kann läuse und flöhe haben, aber ganz sauber is das nicht. Wenn man den mit Adrenalin + H1 Blocker in kürzester Zeit „heilt“ vielleicht, aber das wirkt auf mich überhaupt ned so.

Ich hatte leider keine Zeit, dem Beispiel so zu folgen, dass ich wirklich sinnvoll strukturiert mitdenken konnte.

Mein erster Gedanke (Gedanke, nicht gleich Arbeitsdiagnose) beim Lesen des Satzes „Die Angehörigen schildern, er sei vor ca. 1h im AKH in Behandlung gewesen, bei Rückkehr hätte er plötzlich sehr schwer zu atmen begonnen.“ war allerdings die Anaphylaxie.

Plötzlich einsetzende Atemnot (mit inspiratorischem Stridor?) ist häufig eine Anaphylaxie. Die vorangegangene medizinische Behandlung macht das noch wahrscheinlicher.

Eine Sepsis macht eine unangestrengte Tachypnoe, kein „schweres Atmen“.

Und das sag ich jetzt nicht nur, weil der eitrige Zahn glaub ich das berühmteste NFS-Prüfungs-Fallbeispiel Österreichs ist, sondern weil da aus meiner Sicht von Anfang an einige Triggerwörter dabei waren. :wink:

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Ich werd die Tage mal schauen, ob ich etwas über den weiteren Verlauf in Erfahrung bringen kann. Sollte dem so sein, werd ich hier natürlich Bescheid geben.
Ich bin was den Verlauf angeht grundsätzlich eh auch am zweifeln, ob das zur Anaphylaxie passen würde. Andere Ideen, Perspektiven und Gedanken zusammenzutragen ist ja auch irgendwo ein Mitziel eines solchen Fallberichts.
Bezüglich des Bluthustens könnte ich mir aber auch vorstellen, dass da keine pulmonale Ursache dahintersteckt, sondern ein Zusammenhang mit der rezenten Inzision im Bereich des entzündeten Zahns.

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