[size=150]Polizei ermittelt gegen Notarzt-Team[/size]
[size=85]Pia Eckstein, vom 12.06.2015 00:00 Uhr[/size]

[size=85]Oft rasant unterwegs: Ersthelfer dürfen entgegen allen Verkehrsregeln fahren, wenn sie dabei mit Blaulicht und Martinshorn warnen. Foto: Stefan Jansen[/size]
Waiblingen/Fellbach. Die Anzeige gegen die Fahrerin eines Notarztwagens aus Waiblingen, der zu einem Notfall in Stuttgart unterwegs war, erhitzt die Gemüter. Engstirnig? Oder war die Situation doch so gefährlich, dass der Gang zur Polizei gerechtfertigt war? Die Polizei ist inzwischen um ein paar Erkenntnisse reicher. Doch die Ermittlungen dauern an.
Inzwischen wissen Polizei und Waiblinger DRK-Rettungsleitstelle mehr über den Notarztwagen, der am Montag, 8. Juni, gegen 8 Uhr morgens auf der Straße von Schmiden in Richtung Stuttgart-Neugereuth unterwegs gewesen war: Es war ein Wagen aus Waiblingen. Die Rettungsassistentin, die am Steuer saß, fuhr die Notärztin zu einer bewusstlosen Person; der Einsatz war dringlichst. Es ging um Leben und Tod. Die Waiblinger leisteten Nachbarschaftshilfe, denn in Stuttgart waren alle Notärzte unterwegs.
Laut Strafanzeige einer 41 Jahre alten Frau soll in einer langgezogenen, unübersichtlichen Kurve der Notarztwagen auf der Gegenspur gefahren sein, auf der sie mit ihrem Clio unterwegs war. Der Notarztwagen habe ein anderes Auto überholt. Sie habe nur durch ein Ausweichmanöver einen Unfall verhindern können. Die 41-Jährige behauptet, der Notarztwagen habe nur Blaulicht, aber kein Martinshorn angehabt. Sie sieht in dem Ereignis eine Verkehrsgefährdung.
Die Fahrt soll nicht anders möglich gewesen sein
Der DRK-Rettungsdienstleiter aus Waiblingen, Matthias Fink, erklärt, dass er noch keine weiteren Einzelheiten des Vorkommens kenne. Die Rettungsassistentin habe Nachtschicht gehabt und sei daher nicht zu sprechen. Sie habe aber erklärt, dass sie unter den gegebenen Umständen nicht anders hätte fahren können.
Rettungswagen, Notärzte, Polizei und Feuerwehr: Sie alle haben im Notfall das Recht, die geltenden Verkehrsregeln zu ignorieren und den schnellsten, kürzesten Weg zu nehmen. Sie dürfen rote Ampeln überfahren, in Einbahnstraßen fahren, die Gegenspur benutzen. Freilich immer „unter Beachtung der Sorgfalt“, also so, dass nicht noch ein Unfall passiert. Wenn die Rettungskräfte so agieren, müssen sie ihr Vorhaben allerdings anzeigen: Martinshorn und Blaulicht müssen eingeschaltet sein. Dann sind alle anderen Verkehrsteilnehmer dazu verpflichtet, Platz zu machen.
Allerdings ist, so Fink, die Regelung im Alltag nicht immer in dieser Eindeutigkeit durchzusetzen und schwierig umzusetzen: Zum einen sind, so Matthias Fink, die Fahrerinnen und Fahrer der Rettungsfahrzeuge stets zerrissen zwischen dem dringenden Wunsch, so schnell wie möglich beim Notfall anzukommen, und der Gefahr, die sie durch ihre Fahrweise auf der Straße hervorrufen. Es sei unmöglich einzuschätzen, wie die anderen Autofahrer reagierten. Untersuchungen hätten gezeigt, dass das Unfallrisiko bei Einsatzfahrten zwölfmal so hoch sei wie bei normalen Fahrten. Außerdem könne unmöglich immer Blaulicht und Martinshorn eingeschaltet werden und bleiben: „Wenn der Notarzt vor Ort ist und das Auto im Halteverbot steht, reicht der Warnblinker.“ In der Nacht wird gern auf das Martinshorn verzichtet, um die Lärmbelästigung klein zu halten. Und auch auf gut einsehbaren Strecken verzichteten die Fahrer oft aufs Tatütata. Das Martinshorn werde dann bei Bedarf eingeschaltet.
Die Nacht, gibt Klaus Hinderer, Pressesprecher der Polizei, zu, sei in der Tat ein Problem. Er kann sich zwar nicht erinnern, dass je vorher schon mal ein Notarzt, ein Krankenwagen, Polizei oder Feuerwehr im Einsatz angezeigt worden seien. Doch freilich würden die Kolleginnen und Kollegen, wenn anlässlich dieses Vorfalls das Augenmerk kritisch auf den Einsatzfahrzeugen liege, wieder ganz regelgemäß Blaulicht und Martinshorn einschalten. Um auf Nummer sicher zu gehen. Und auf die Gefahr hin, dass sich wieder Beschwerden mehrten, wie man es jetzt schon bei Vermisstensuchen mit dem Hubschrauber habe. „Das Maß zu finden ist schwierig.“
Wenn der Notarztwagen, so Matthias Fink, mit Blaulicht unterwegs ist, dann blinke die Lampe auf dem Dach und leuchten Frontscheinwerfer im schnellen Staccato. Außerdem fahre man immer mit Licht und die Neonbemalung strahle. „Man sieht den Wagen, vor allem wenn er wie am Montag von vorne kommt, immer früher als man ihn hört, auch wenn das Martinshorn eingeschaltet ist.“ Denn das Martinshorn sei erst recht spät zu hören.
Die Kurve allerdings, um die es geht, sei, so der ermittelnde Beamte vom Polizeirevier Fellbach-Schmiden, zurzeit wirklich kaum einsehbar. Sie sei sehr langgezogen und das Gras stehe sehr hoch. Man könne also in der Ferne kaum Autos erkennen, höchstens Lastwagen. Der Polizeibeamte zeigt Verständnis für die Anzeige: Wenn tatsächlich kein Martinshorn Lärm gemacht habe, dann hätte die Frau vom Geschehen sehr überrascht werden können. Und drei Autos nebeneinander und der Überholende mit hoher Geschwindigkeit und deutlich größer als das eigene Auto – „sie erschrecken zu Tode“.
Allerdings hat sich inzwischen ein Zeuge gemeldet, der vom Notarztwagen etwa 1,5 Kilometer weiter vorne überholt worden sein will. Dieser Zeuge erklärt, dass das Martinshorn eingeschaltet gewesen sei.
Die Rettungsassistentin wird kommende Woche von der Polizei befragt werden. Die Ermittlungen dauern also noch an.
Die bayrische Variante
Die aktuelle Anzeige weckt Erinnerungen an einen Fall in Bayern: Im Januar war einem Notarzt dort ein Strafbefehl über 4500 Euro und Führerscheinentzug zugestellt worden.
Der Fall war allerdings anders gelagert als der hiesige.
Der bayrische Notarzt war, anders als bei uns, selbst gefahren. Er war im April 2014 von der Rettungsleitstelle Ingolstadt zu einem zweijährigen Mädchen geschickt worden. Das Kind hatte Schnellkleber verschluckt und drohte zu ersticken. Auf der Fahrt mit Blaulicht und Martinshorn überholte der Mediziner mehrere Autos – ein Autofahrer fand, dass er dabei zu rasant unterwegs war und zu riskant überholte – und zeigte ihn an.
Wenn Blaulicht und Martinshorn eingeschaltet sind, sagt die Polizei, haben die anderen Verkehrsteilnehmer „die verdammte Pflicht“, langsam zu machen und an den Rand zu fahren. Dem Rettungsdienst muss Platz gemacht werden.
Der Fall des bayrischen Notarztes schlug vor allem im Internet hohe Wellen. 200 000 Menschen unterschrieben eine Online-Petition, um den Mediziner zu unterstützen. Die Staatsanwaltschaft hat die Anzeige wieder zurückgezogen. Anlass sei jedoch nicht der Aufruhr im Internet gewesen.