Interaktives Fallbeispiel 2

So. Nachdem das Fallbeispiel von Menico großen Anklang gefunden hat, hier nun eins von mir.
Regeln sind die selben wie vorher, nur dass ich mir mit den Antworten etwas Zeit lassen werde, um allen die Chance zu geben etwas schlaues zu schreiben :wink:

Spoiler: auch hier wird es nicht die endgültige Auflösung geben, der Fall soll eher als Beispiel dienen, wohin sich ein Einsatz entwickeln kann.

Und los gehts!

[size=150]Szene: [/size]
-Regnerischer Frühlingstag, ~10°C
-Berufung noch im AKH stehend via Funk „Sie werden dringend benötigt, schwerer VU!“
-Alarmierung: 29D02m Verkehrsunfall - Gefährlicher Unfallmechanismus - PKW gegen Fußgänger
-BO: 5min vom AKH entfernt, Innerstädtisches Gebiet
-Alarmiert: RTW solo*
-Besatzung: 1NKV, 2 gute RS

Eure Gedanken bei der Anfahrt?
Teameinteilung?
Taktische Überlegungen?

*ja, ist in der Ausrückeordnung auch so vorgesehen :wink:

Nehm’ ich mal so auf für das nächste Beispiel :wink:

RTW gleich mal voll aufheizen. Falls vorhanden an die Wärmedecke denken.

Den weniger erfahrenen Sani der beiden abstellen um den Kopf des Fußgängers zu stabilisieren. NKV macht den ersten Check. Zweiter Sani checkt den PKW und soll so schnell wie möglich Rückmeldung geben.
Überlegen ob man bei diesen Verhältnissen nicht zuschaut schnell in den warmen RTW zu kommen und dort alles weitere zu machen. Auch im Falle einer Reanimation (im Regen zu pumpen ist ja nicht so prickelnd, vor allem mit Defi)

Im Kopf nochmal die versch. Kinematiken und zu erwartenden Verletzungen bei unerschiedlichen Geschwindigkeiten durchgehen.

Ich kenn mich in Wien nicht aus, ich nehme an das AKH ist für eh alles geeignet? Auch für einen evtl. traumatologischen Schockraum mit SHT?

AKH ist der Maximalversorger schlechthin in Wien. Zu denen kannst mit so ziemlich allem kommen.


Meine Gedanken auf der Einsatzfahrt dorthin wären:

→ Hat die LPD bereits die Unfallstelle abgesichert?

→ Wie alt ist der/die Patientin?

→ Zufahrt und Abfahrtswege für weitere Einsatzkräfte?

→ Um was für ein Auto handelt es sich bei dem PKW? SUV, Crossover, Kleinwagen, Kombi,…?

→ Mit welcher Geschwindigkeit kam es zum Aufprall?

→ Spineboard oder Schaufeltrage mit Vakuummatratze?

→ Sind die Fahrzeuginsassen evtl ebenfalls betroffen und bekommen es zum gegenwertigen Zeitpunkt nicht mit?

→ Benötige ich frühzeitig ein zweites RM? (RTW, KTW, MBE, FISU, Nef…?)

→ Nächste Spitäler mit Traumatologischen Schockraum: AKH, Hanusch, WIL, UKH-M evtl noch KHN und UKH-LB

→ NKV übernimmt die Teamleitung bei der Erstbegutachtung und der RS-1 soll das notwendige Equipment für eine eventuelle Immobilisierung organisieren. Das halten vom Kopf einen Ersthelfer übertragen, das kann man diesen zumuten.

RS-2 soll sich das Unfallfahrzeug ansehen und so rasch wie möglich Rückmeldung erstatten, damit eine möglichst Konstruktive und flotte Lagemeldung an die Leitstelle möglich ist.

Sehr gut, muss ich gestehen vergess ich als jemand dem prinzipiell immer zu warm ist leider viel zu oft.
Wärmedecken gibts bei uns leider nicht.

Mitarbeitsplus (y)

Hat uns die LST nicht dazugeschrieben, ist aber vermutlich mitaramiert

Mänl. ca 80 laut alarmierung

aus allen Richtungen gut möglich

kommt leider in unserer Notrufabfrage nicht vor

Bin grundsätzlich ein Spineboard Fan, da ich aber einen auf der Straße liegenden Patienten (=Flacher, glatter Untergrund) erwarte bin ich in der Situation für die Schaufeltrage

Laut Alarmierung nur ein Patient, mal schaun was uns erwartet :wink:

[size=150]Sicherheit[/size]
-Innerorts, → Vmax 50km/h
-Unfallauto steht mit eingeschalteter Warnblinkanlage auf Zebrastreifen, blockiert damit eine Fahrspur
-RTW mit laufendem Blaulicht und Warnblinkanlage in Richtung des ankommenden Verkehrs abgestellt
-Unfallauto: keine Auslaufenden Betriebsstoffe, droht nicht wegzurollen

→ Einstzstelle scheint sicher

[size=150]Situation[/size]
-Pat sitzt auf Bank, wird von Passanten notdürftig mit Regenschirmen von der Witterung schützt.

Noch Fragen/Vorschläge zu SSS?
Weitere Schritte?

Na wenn die Einsatzstelle sicher scheint, Annäherung, fällt dabei etwas auf zB Blut am Boden, ist eine Delle am Auto sichtbar, Windschutzscheibe, Scherben etc. Und nun beim Patienten angekommen Ansprechen und das gute alte :

X Blutung sichtbar?
A Frei? Gefährdet?
B Beidseits belüftet, Atemgeräusche, Atemzugsvolumen suffizient, Frequenz, Thoraxexkursionen, Stauungsszeichen, Zyanose, Trachea mittelständig, Thorax stabil
C Radialispuls palpabel, Rythmus, Frequenz, Rekapzeit, Abdomen (druckdolenzen, Defense?), Hautkolorit, KISS, Beine stabil?
D Pupillen, FAST, Kraftverschluss, Emesis, vertigo, nausea, Orientierung, DMS
E Inspektion des Körpers nach Auffälligkeiten

Mit diesen Ergebnissen Entscheidung Kritisch/nicht kritisch + 10 4 10

Darauf wollte ich hinaus, was uns bei der Situation noch fehlt ist die Unfallkinematik und der erste Eindruck vom Patienten:
-Auto steht am Zebrastreifen, wir vermuten also mal, dass der Anhalteweg kurz und die Geschwindigkeit gering war.
-Am Auto selbst ist NICHTS zu erkennen.
-Kleiner Vorgriff: Die Kinematik wird sich im Gespräch mit dem Patienten, der Autofahrerin und Zeugen glaubhaft als minimales seitliches anstupsen am Knie herausstellen. Pat nicht auf der
Motorhaube/Windschutzscheibe aufgekommen, nicht zu Boden gegangen.

-Erster Eindruck: leicht bis unverletzter Patient.

Damit können wir das ganze auch schon beenden, war mal wieder eine maßlos übertriebene Alarmierung…

Oder?

Primary Survey:
Keinerlei offensichtliche Blutung
Pat spricht in ganzen Sätzen, also mal kein grobes A&B Problem
Sein Puls ist kräftig und langsam, haut mich jetzt nicht von den Socken
Er kann sich an alles erinnern, D scheint jetzt auf den ersten Blick mal zu passen.
Als einziges E-Problem lässt sich das schmerzende Knie identifizieren.

So, dass war jetzt keine wirkliche Primary Survey, aber da es in Strömen regnet und der RTW 3m neben dem Patienten steht genug Information um getrost entscheiden zu können, dass der Pat die 2min ,bis wir ihn im RTW unter besseren Bedingungen richtig untersuchen können, Zeit hat.

Im RTW:

A: frei, nicht bedroht
B: Thorax stabil, beids. ves. AG, seitengleiche Thoraxexkursionen, keine Zyanose, Trachea mittelständig, keine Atemanstrengung
C: kräftiger, langsamer peripherer Puls, Haut nass, kühl, bleich (also der Witterung entsprechend), zentrale Recap <1sek., 5B unauffällig
D: vollkommen wach, zu allen Qualitäten orientiert, alles erinnerlich; FAST+ o.B.; PERRL; MDS o.B.; keine Emesis, kein Vertigo
E: TC: bis aufs Knie o.B.

Klingt bis jetzt nach ein bisschen Voltaren-Gel und gut ists. Oder?

Gut dann möchte ich wissen wie es zu dem Unfall kam und einen SAMPLER und eine Erklärung für den langsamen Puls bei Z.n. VU

Unfallhergang:
Lässt sich nicht genau sagen. Vermutlich einfach blöd hergegangen. Fußgänger glaubt Auto hat ihn gesehen und wird langsamer. Auto glaubt Fußgänger will die Straße (doch) nicht Überqueren. Irgendwas auf die Art wird’s gewesen sein.

S: Schmerzen im Knie, nicht voll belastbar, Passive Bewegung möglich; Lachmann- / Schubladen-Test neg.
A: keine
M: Betablocker, T-ASS, Colesterinsenker
P: War letze Woche beim Internisten, alles bestens (warum er dann seine Medis brauch? Zur Vorsicht hat der Arzt gesagt :wink: )
L: Vor ein paar Stunden normal gefrühstückt. Harn-/Stuhlgang normal.
E: Die Schmerzen im Knie kamen wirklich vom Unfall und sind kein Chronischer Zufallsbefund
R: Hohes Alter (85a)
S: Führt sein Leben Selbstständig, kommt gerade vom Einkaufen

Ich nehms mal vorweg, einer meiner RS hat in der Zwischenzeit ein paar Werte erhoben:
AF: 12/min
RR: 175/70mmHg
SpO2: 97%
BZ: weis ich nicht mehr, hat einfach gepasst
Temp.: weis ich nicht mehr, hat einfach gepasst
PF: 35/min Uiuiuiui, jetzt wirds doch noch spannend. :laughing:

Ich hab bewusst bei der Primary Survey „langsam“ und nicht „seeehhhr langsam“ geschrieben weil das eben meine erste Schätzung war.
Damit haben wir die erste Lektion dieses Fallbeispiels:
[size=150]Frequenzen schätzen ist schwierig![/size]
Gibt eine gute Studie das selbst erfahrene Anästhesisten die Atemfrequenz oft katastrophal falsch schätzen. Wenn die wer bei der Hand hat kann er sie gerne hier verlinken.

Weiteres Vorgehen?

Ok dann sind wir vorerst zufrieden, in sicherer Umgebung und haben geordnete Verhältnisse. Die nächste Interne mit Kardio ist auch nicht weit, der Patient hat sich für ein EKG Qualifiziert.
Was sagt es denn?

Mal auf die Trage legen, ein EKG dran und dabei fragen ob er seinen normalen Ruhepuls kennt.
Die Heimgeräte zur RR Messung zeigen den Puls ja meist an.

Und mal die Frage stellen ob sich an dem Medis was geändert hat.

Der Monitor spring beim Anlegen der ersten Elektroden von PF 35 auf HF 70
Der Ausdruck zeigt das da:
EKG.jpg

Guter Einwand, hab ich nicht dran gedacht.
Aber lassen wir ihn fürs Beispiel einen normalen Ruhepuls haben.

Schaut mir nach Bigeminus aus und erklärt auch warum der Puls nur so niedrig palpiert werden konnte.

Ich tippe drauf, dass es an den Betablockern liegt (evtl. wurde beim Internisten die Dosis oder das Präparat geändert?) und würde den Pat. aufgrund fehlender Symptomatik mal als nicht kritisch einstufen.

Die VES sollten trotzdem einen Auswurf generieren und dieser Bigeminus ist ja scheinbar erst nach Anlage des EKG aufgetreten:

Jein. Beim Bigeminus wird zwar Auswurf produziert, man spürt aber oft keine separate Pulswelle. Die Wellen „verschmelzen“ zu einer. Beim ventrikulären Bigeminus dürfte - so wie ich mir das Vorstelle - auch die Auswurfleistung zusätzlich noch geringer sein, weil die Vorhöfe nicht mitkontrahieren.
^^Evtl. kann das jemand mit fundierteren Kenntnissen bestätigen / korrigieren.

Er schreibt auch die PF 35 ändert sich auf HF 70. Unterschiedliche Messwerte. Unterschiedliche Messverfahren. Klassischer falscher Messwert. So wie wenn der Corpuls zu hohe T-Wellen als QRS Komplexe mitzählt und die HF dann falsch als doppelt so hoch angezeigt wird.

Also, für mich ist es eine Sinusbradycardie (ich erkenne beim besten Willen keine weiteren P´s die nicht übergeleitet werden.) mit Bigemini
Ich bin mir nicht sicher, ob die VES durch einen Kompensationsversuch auf die Sinusbradycardie entstehen, oder ob der SR durch die kompensatorische Pause nach der VES bradykard ist.
Ist aber auch eher eine akademische Frage denn von realer Bedeutung für den Patienten.

Danke, das ist die Keymessage in dem Beispiel.
PF ist nicht immer gleich der HF.

In diesem Fall hatte der Patient also ein Pulsdefizit.
Die VES haben zu keinem Tastbaren Auswurf geführt, auch in der Plethysmographie war keine Andeutung einer weiteren Welle zu sehen.
Im Nachhinein hätt ich (aus reiner Neugierde, keine Therapeutische Konsequenz) gerne damals mein Stethoskop aufs Herz drauf gehalten um zu hören ob die VES zu einer Kontraktion des (leeren?) Herzens führen oder ob es quasi nur Strom ist der da durchs Herz saust. Ultraschall wär da natürlich richtig cool.

Wie gings weiter?
Der Patient wurde nach wenigen Minuten, weiterhin vollkommen Stabil, im AKH auf der internen Überwachung übergeben.
Der weitere innerklinische Verlauf und eine endgültige Diagnose sind mir wie zu Beginn schon erwähnt leider nicht bekannt.

Nachträgliche Gedanken zu der Theorie mit den Betablockern:
Betablocker hemmen die sympathische Aktivierung am Herzen, also in erster Linie den Sinusknoten.
Wenn der SK maximal blockiert ist, also null sympathomimetischen Input erhält, sollte er in seiner Eigenfrequenz mit ca. 60bpm arbeiten.
Ein weiters Ausbremsen des SK unter seine Eigenfrequenz durch noch mehr Betablocker sollte nach meinem Verständnis nicht möglich sein.

Unsere Ärzte/Medizinstudenten hier mögen mich korrigieren.

Ich versuch’ das mal mit meinem Wissen herzuleiten.
Ein Kammerersatzrhythmus entsteht ja weil „zu lange“ keine Erregung von weiter oben kommt (Sinus, AV, His, etc.). Stichwort Schittmacherpotential / Ruhepotential. Das ist ja hier nicht der Fall. Die Erregung aus der Kammer kommt ja immer direkt nach der „normalen“ Erregung.

Wenn man den Abstand der sichtbaren P-Wellen halbiert kommt man ziemlich genau auf einen kleinen „Knick“ in der deszendieren Teil des Kammerkomplexes. Evtl. ist das die „reguläre“ P-Welle die nicht übergeleitet werden kann weil die Kammer ja noch refraktär ist.
→ daraus resultiert die kompensatorische Pause

Tastbar ist hier das Schlüsselwort!
Ich weiß zu wenig über das Thema um sagen zu können ob es am Pulsoxy sichtbar wäre. Das war lediglich meine Schlussfolgerung. Kann aber sein, dass es untergeht. Bzw. hab ich keine Ahnung ob unser Equipment überhaupt sensitiv genug ist es zu erfassen, selbst wenn es sichtbar sein müsste.

Die Füllungsphase ist zwischen den Komplexen extrem kurz und daher kommt es zwar zu einem Auswurf, aber halt mit wenig Volumen. Auch weil die Vorhöfe nicht mitkontrahieren (was im Normalfall den Auswurf ja nochmal erhöht)

Damit das Herz kontrahieren kann braucht es ja die Repolarisation (T-Welle) die man auch deutlich sieht. Das Herz kann somit auch nicht „leer“ sein.
Eine PEA ist da glaub’ ich eher unwahrscheinlich.

^Vll. ist ein Mediziner da, der da was dazu schreiben kann / will.