[size=150]Überregionaler Stromausfall: Die Folgen für den Rettungsdienst[/size]

Bremen (rd.de) – Was wäre, wenn in ganz Norddeutschland für 18 Stunden der Strom ausfiele? Vor welchen Herausforderungen stünden Einsatzleitung und Rettungsfachpersonal in einer solchen Situation? Anhand eines fiktiven Beispiels zeigen wir die möglichen Folgen.
Eine fiktive Situation: Seit Dienstag, 10. April 2013, berichtet das Fernsehen über die Auswirkungen so genannter Sonnenstürme auf Regionen nahe des nördlichen Polarkreises. Aus Nordamerika, Grönland und den skandinavischen Ländern wird über lokale Stromausfälle, Behinderungen des Flugverkehrs und Störungen des Telefonnetzes berichtet. In Deutschland schockt das keinen. Probleme, die nur weit entfernte Regionen zu betreffen scheinen.
Doch in der Nacht zum 29. August 2015 ist plötzlich ganz Norddeutschland ohne Elektrizität. In Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Niedersachsen bricht das Stromversorgungsnetz zusammen.
Der Ausfall der Stromverbindung in den nördlichen Bundesländern überlastete die von Westen und Osten kommenden Versorgungstrassen. Die Folge war ein Dominoeffekt, der die Stromversorgung in Norddeutschland zum Kollabieren brachte.
Manchem mag dieses Szenario wie aus einem Science-Fiction-Roman vorkommen. Tatsache ist aber, dass alle elf Jahre die Sonne eine erhöhte Aktivität zeigt. Astronomen erkennen diese Aktivitäten an der Zahl der Sonnenflecken.
Und einen großflächigen Blackout durch einen Sonnensturm hat es schon einmal gegeben: Am 13. März 1989 brach das Netz eines regionalen Stromversorgers in der Provinz Quebec (Kanada) zusammen. Binnen 90 Sekunden saßen sechs Millionen Menschen im Dunkeln – für neun Stunden.
Der durch die Teilchenstrahlung erzeugte Magnetsturm koppelte sich in die langen Überlandleitungen ein; die Verteilerstationen und Transformatoren brachen daraufhin unter der Fremdlast zusammen.
Rettung im Licht von Pupillenleuchten
Im fiktiven Beispiel neigt sich die Nachtschicht auf der Rettungswache langsam dem Ende zu. Auch hier haben die Einsatzkräfte den Stromausfall registriert. Kurz danach geht um 05.30 Uhr der Piepser los.
Im fahlen Licht der Fluchtwegebeleuchtung macht sich das Rettungsteam auf den Weg zum Einsatzfahrzeug. Der Funk ist stark gestört. Minuten brauchen die Rettungsassistenten, um mit der Notkurbel das schwere Rolltor hochzuziehen. Geprobt wurde so etwas noch nie.
Auf dem Weg zur Einsatzstelle sind die Straßen leer und dunkel. Alle Ampeln sind ausgefallen. Eintreffen am Einsatzort; der Notarzt ist schon da. Auch hier: Alles ist stockdunkel. Das Rettungsteam nimmt Handscheinwerfer aus den Fahrzeugen mit. Die Finsternis macht der Patientin Angst und verstärkt ihre Atemprobleme.
Eine Versorgung quasi im Lichtkegel von Pupillenleuchten hat keinen Zweck. Nachbarn leuchten deshalb mit Taschenlampen den Weg aus, als die Frau durch das Treppenhaus zum RTW getragen wird.
Züge bleiben stehen
Es ist mittlerweile 06.45 Uhr: der Berufsverkehr hat eingesetzt. Obwohl die wenigsten Menschen an ihrem Arbeitsplatz ohne Strom viel ausrichten können, versuchen unzählige an ihre Arbeitsplätze zu gelangen. Wer kann, macht sich im Auto auf den Weg. Schnell sind die Straßen verstopft. Es kommt zu zahlreichen kleineren Unfällen.

[size=85]Übung mit THW, Feuerwehr, DRK auf dem Truppenübungsplatz bei Stetten am kalten Markt. Julian Bauder[/size]
[size=85]Käme es zu einem langandauernden, umfangreichen Stromausfall, wären auch die Betreuungseinheiten der Hilfsorganisationen gefordert.[/size]
Ein Nachtzug und drei Regionalzüge sind beim Stromausfall auf freier Strecke stehengeblieben. Die Züge müssen von Einsatzkräften evakuiert werden. Immerhin sind die U-Bahnen in vielen Städten so abgesichert, dass sie noch den nächsten Haltepunkt erreichen.
„3-83-1, fahren Sie mal Hinkebeinstraße 19. Meldung kam über ein paar Ecken, unklarer internistischer Notfall.“ Am Einsatzort steht eine Altenpflegerin mit einem Beatmungsbeutel in der Hand neben einem privat gepflegten Tracheostoma-Patienten. Der Akku des Beatmungsgeräts ist leer. Der Mann muss dringend in einer Klinik weiter beatmet werden.
Auch die KTW-Besatzungen haben alle Hände voll zu tun. Sie wollen die vorbestellten Fahrten abarbeiten, stoßen allenthalben auf Probleme. Die Krankenhäuser berichten über volle Ambulanzen, Arztpraxen können nur manuelle Untersuchungen durchführen. Eine Dialysepraxis nimmt wegen des Stromausfalls derzeit keine Patienten auf. Eine KTW-Besatzung muss deshalb ihre Patientin unverrichteter Dinge wieder ins Pflegeheim zurückbringen.
Dialyse fällt heute aus
Der Oberbürgermeister stellt aufgrund der Lage um kurz nach 08.00 Uhr den Katastrophenfall fest. Damit kann nun im großen Umfang Unterstützung des Technischen Hilfswerks (THW) und der Bundeswehr angefordert werden.
Der Krisenstab bittet das THW, besonders zu schützende Einrichtungen mit Notstrom zu versorgen. Welche Einrichtungen das sind, bestimmt der Notfallplan.
Nachdem die Energieversorger nur wenig Hoffnung machen, die Stromversorgung in den nächsten Stunden wieder herstellen zu können, rückt die Frage nach der Sicherstellung der Treibstoffversorgung in den Mittelpunkt der Bemühungen. Bundesweit gab es 2008 gerade einmal 15 öffentliche Tankstellen mit eigenem Notstromaggregat.
Um für die zu treffenden Maßnahmen Zeit zu gewinnen, werden alle Rettungs- und Krankenwagen angewiesen, nach Übergabe von Patienten am Zielort Standwache zu beziehen. So sollen unnütze Leerfahrten vermieden werden.
Die Stadtverwaltung möchte derweil am Güterbahnhof vier Zapfsäulen notstromfähig machen lassen. Die Zapfsäulen sollen ausschließlich Einsatzfahrzeugen zur Verfügung stehen. Für das Vorhaben soll eine Elektrikerfirma beauftragt werden. Wegen Problemen mit der telefonischen Erreichbarkeit suchen Mitarbeiter des Ordnungsamtes schließlich das Unternehmen gegen 08.30 Uhr persönlich auf.
An der Tankstelle am Güterbahnhof stellt eine DRK-Bereitschaft das Aggregat ihres Lichtmastfahrzeugs bereit. Die Elektriker sollen nun einen provisorischen Stromeinspeisepunkt und eine Erdung herstellen, damit die Zapfsäulen sicher in Betrieb gehen können.
Rettungswagen im Verlegungsstress
In der Zwischenzeit melden sich zwei Pflegeheime fast zeitgleich in der Leitstelle und bitten dringend um Hilfe: Die unterbrechungsfreien Stromversorgungen der Pflegestationen sind aufgebraucht. Auch hier gibt es beatmete Pflegepatienten.

[size=85]Das Öffnen eines elektrischen Garagentors von Hand dürften die wenigsten Einsatzkräfte geübt haben.[/size]
Um nicht weitere Rettungswagen mit Beatmungspatienten zu blockieren, sollen pneumatische Beatmungsgeräte aus Katastrophenschutzbeständen eingesetzt werden. So will man die Zeit überbrückt, bis die Patienten nach und nach in Krankenhäuser verlegt werden können. Der Plan schlägt allerdings fehl, weil die Pflegepatienten assistiert beatmet werden sollen. Es hilft nichts: Der Rettungsdienst muss die Beatmungsfahrten sofort durchführen.
Im Beispielszenario scheint sich gegen 10.00 Uhr die Lage zu beruhigen. Immer weniger Notrufe erreichen die Leitstelle. Der Grund für die scheinbare Entspannung liegt allerdings darin, dass inzwischen das Mobilfunknetz weitgehend ausgefallen ist.
Die Netzknoten sind mit Notstromdieseln zwar für bis zu einer Woche gegen Stromausfall gesichert. Die gewöhnlichen Mobilfunkmasten halten bei Stromausfall den Betrieb mit Akkus aber nur für sechs bis 18 Stunden aufrecht. Durch die hohe Netzlast sind die Akkus an den Sendemasten der Mobilfunknetze schnell aufgebraucht.
Notrufproblem erzeugt Fehlfahrten
Immerhin: Das Telefon-Festnetz, ISDN und sogar Internet-DSL sind noch betriebsbereit. Das Telefonnetz kann für mehrere Tage per Notstrom aufrechterhalten werden. Ein Problem ist aber, dass die wenigsten privat genutzten Telefone über einen Akku zur Überbrückung eines Netzstromausfalls verfügen. Die Leuchten an NTBA und DSL-Splitter signalisieren also unverdrossen Betriebsbereitschaft. Das DSL-Modem benötigt aber eine externe Versorgungsspannung, die beim Stromausfall fehlt.
Das Internet könnten Notebook-Nutzer mit eingebautem Analogmodem und vollem Akku noch nutzen – vorausgesetzt, sie haben die Zugangsnummer eines Internet-by-call-Anbieters zur Hand.
Einen Notruf abzusetzen, ist in dieser Situation also schwierig. Viele Betroffene wenden sich daher hilfesuchend an Krankenhäuser, Rettungswachen, Feuerwehrhäuser und Polizeistationen. Sogar Taxistände werden aufgesucht, um Notfälle zu melden.
Telefonverbindungen zwischen Feuer- und Rettungsleitstellen sowie der Polizei – in manchen Städten auch zu Krankenhäusern – sind ausfallsicher. Vorausschauend wurden sie in einem separaten analogen Schalttelefonnetz zusammengeschlossen. Strenggenommen ein Relikt aus den Zeiten des Kalten Krieges. Heute fallen sie deshalb nicht selten den aktuellen Leitstellenmodernisierungen zum Opfer.
Kein Digitalfunk mehr in Niedersachsen
Das Notrufproblem sorgt für Unruhe in der Bevölkerung. Viele müssen feststellen, dass sie sich auf den Notruf 112 nicht mehr wie gewohnt verlassen können. Folge: Der Rettungsdienst registriert einen deutlichen Anstieg von Fehlfahrten, weil die Patienten zwischenzeitlich mit anderen Transportmitteln ins Krankenhaus gebracht wurden.

Derweil kann der neue digitale TETRA- Einsatzfunk in Bremen und Niedersachsen nicht mehr genutzt werden. Die Funkzellen des digitalen BOS-Funks sind in den beiden Bundesländern nur mit zwei Stunden Akku-Überbrückung versehen.
Zwar schlossen die Länder Kooperationsverträge mit dem THW, um sich für solche Situationen zu schützen. Allerdings können die Versorgungsaggregate nach DIN 14 685 derzeit noch nicht an die Basisstationen angeschlossen werden. Nur in Hamburg kann noch digital gefunkt werden, weil dort viele TETRA-Basisstationen mit festen Notstromaggregaten ausgestattet worden sind.
In Niedersachsen wurden fünf von 430 Tetra-Basisstationen zwar mit Wasserstoff-Notstromeinrichtungen ausgerüstet, die wenigstens 48 Stunden Strom liefern sollen. Doch die Kapazitäten sind zu schwach, um den Digitalfunk in dieser Situation zu „retten“.
Treibstofflogistik organisieren
Der Krisenstab entscheidet daher, zwei analoge BOS-Relaisstationen mit externem Notstrom zu versorgen. Hier sind die Einspeisepunkte und Erdungsmöglichkeiten der Anlagen genau bekannt. Zwei mobile Stromerzeuger werden vom DRK bereitgestellt.
Die Frage nach der Treibstofflogistik wird drängender. Auch das Technische Hilfswerk weist auf dieses Problem hin, kann materiell aber nicht weiterhelfen. Die THW-Stützpunkte bevorraten nämlich keine Gefahrstoffe, also auch kein Benzin für solche Schadenslagen. Die ersten Notstromaggregate sind in Betrieb, ihre Laufzeiten hängen von der entnommenen Stromlast ab. Genau Angaben, wann welches Stromaggregat leerläuft, gibt es nicht.

[size=85]Versorgungszüge sind darauf eingestellt, binnen kurzer Zeit eine größere Zahl von Personen mit Essen und Trinken zu versorgen[/size].
Im hier geschilderten fiktiven Szenario geht die Tankstelle für Einsatzfahrzeuge gegen 12.00 Uhr in Betrieb. Die Leitstelle beordert die Rettungsmittel in kleinen Gruppen zur Tankstelle, weil sich sonst ein großer Stau bilden würde.
Die Stadtwerke melden gegen 14.00 Uhr einen verminderten Wasserdruck im Stadtgebiet. In der Regel sind die Grundwasserpumpstationen mit einer Notstromversorgung gekoppelt, die eine Wasserversorgung für Zeiträume zwischen zwölf und 24 Stunden gewährleistet. In Hochhäusern oder Hanglagen werden die Druckerhöher jedoch nicht mit Notstrom abgedeckt. Fließendes Wasser gibt es in Städten deshalb vermutlich nur noch bis zum dritten Obergeschoss.
Auch die Feuerwehr muss sich auf den geringeren Druck einstellen. Die Hydranten werden weniger Wasser liefern als üblich. Gleichzeitig steigt die Zahl von Bränden. So endet der Versuch einer Frau, einen alten Campingkocher in Betrieb zu nehmen, mit einer Verpuffung. In den Abendstunden verursachen unbeaufsichtigte Kerzen zahlreiche Zimmerbrände. Darüber hinaus erleiden diverse Personen Kohlenmonoxid- Vergiftungen, weil sie unwissend Holzkohlegrills im Wohnzimmer angezündet hatten.
Hilfsorganisationen haben mittlerweile an diversen Stellen in der Stadt Feldküchen aufgebaut. Hier gibt es kostenlos Tee und eine warme Mahlzeit für die Bevölkerung. Langsam bekommt man die Lage in den Griff. Die Maßnahmen greifen, das Chaos lichtet sich. Und gegen 22.00 Uhr gehen tatsächlich in den ersten Bezirken die Lichter wieder an. Der Alptraum geht zu Ende.
Unser Autor: Mario Gongolsky (Jg. 1966), Rettungsassistent, OrgL, Absolvent der Weiterbildung „Management in Hilfeleistungsunternehmen“ (Text); Markus Brändli (Fotos); 27.08.2015